Interview: Kraft und Klarheit durch eine Auszeit auf der Alp

Katharina Afflerbach genießt mit geschlossenen Augen die Auszeit auf der Alp.

Katharina Afflerbach war zwölf Jahre lang die Karriereleiter nach oben geklettert, als sie sich ausgebrannt fühlte und krank wurde. Sie beschloss, ihr altes Leben samt altem Ich abzustreifen, und zog für vier Monate für eine Auszeit auf eine Alp in den Schweizer Bergen. Hier erwartete sie ein Leben fernab einer ländlichen Postkartenidylle: morgens um halb sechs Ziegen melken, Rinder auf die Weide treiben, Käse machen, Zäune reparieren, Heu mähen und Bäume fällen. Doch das Leben hier oben, das von körperlicher Arbeit, von Wind und Wetter und dem Rhythmus der Tiere bestimmt wird, lässt sie sich endlich wieder lebendig fühlen. In unserem Gespräch erzählt sie, warum sie in die Berge zog, was sie dort fand – und wie ihr das Leben auf der Alp Freiheit, Klarheit und neue Kraft schenkte.

Autorin Katharina Afflerbach berichtet im Interview über ihre Auszeit in den Bergen

Liebe Frau Afflerbach, Sie waren erfolgreiche Marketingleiterin in der Kreuzfahrt- und Hotelbranche. Was hat Sie dazu bewogen, Ihren Büro-Job gegen eine doch körperlich harte Arbeit auf einer Alp zu tauschen? 

Seit ich denken kann, habe ich immer versucht, perfekt zu sein, es allen recht zu machen. Ich habe nie gelernt, selbstbestimmt zu sein, und so fiel es mir von Kindheit an schwer, mich von den gefühlten Erwartungshaltungen anderer freizumachen. Wir waren fünf Kinder, und ich dachte, um mir die Aufmerksamkeit und Fürsorge meiner Eltern zu sichern, müsste ich besonders gut sein – ich habe damals unheimlich viele Ehrenämter bekleidet, eine Turngruppe geleitet, den Kindergottesdienst gestaltet, dazu noch Trompete im Kirchenchor gespielt und so weiter. Mein damaliger Glaubenssatz, den ich tief verinnerlichte, war: Ich werde gemocht und anerkannt, wenn ich etwas leiste. Das ging in Schule und Uni so weiter und zog sich bis ins Arbeitsleben.

Gleich im ersten Job nahm ich jedes Zuckerstückchen, das mir mein Chef unter die Nase rieb, wie neue Projekte oder die Aussicht auf eine Beförderung samt neuem Titel auf der Visitenkarte, dankbar an. Ohne mir darüber Gedanken zu machen, ob ich das wirklich will, ob es zu mir passt oder ob ich das überhaupt schaffe. Ich war gefangen in einem Hamsterrad, von dem ich damals annahm, es würde mir echte Wertschätzung, Anerkennung, Freundschaft und Liebe geben. Bis ich irgendwann aufwachte und verstand, dass ich nur Rollen spiele, mir selbst nicht gerecht werde.

Mit dieser Erkenntnis ist in mir der Gedanke aufgebrochen, mich neu definieren und nicht länger von den gefühlten Erwartungen anderer steuern lassen zu wollen. Ich beschloss, aus dem Karriere-Hamsterrad auszusteigen und mich zukünftig selbstständig zu machen. Und diesen Übergang, diese Zeit zwischen den zwölf Jahren „Fremdbestimmung“ und einer neuen Eigenverantwortlichkeit, wollte ich besonders zelebrieren und richtig auskosten – um wieder ich selbst zu werden. So ist die Idee zum Sommer auf der Alp entstanden.

Katharina Afflerbach vor einer hübschen Berghütte im Porträt.
Durch Ihre (Aus)zeit auf der Alp hat Katharina Afflerbach viel Lebensqualität gewonnen.© Katharina Afflerbach

Was hat diese Erkenntnis ausgelöst?

Wenn man stets bis an sein Limit geht und nie auf sich selbst achtet, macht das der Körper irgendwann nicht mehr mit. So war es auch bei mir. Ich bekam schlimmes Asthma. Das passte am Anfang natürlich überhaupt nicht zu dem Bild, das ich von mir hatte – plötzlich sollte ich nicht mehr so leistungsfähig sein? Unvorstellbar. Bis dahin dachte ich ja, ich wäre unbesiegbar und eine perfekte Leistungsträgerin – die wird natürlich nicht krank. Also habe ich weitergearbeitet, sechs Tage die Woche, manchmal sogar sieben. Ich blieb nicht selten bis abends um zehn oder elf Uhr im Büro, während andere schon seit Stunden auf der Couch lagen. Irgendwann aber kam der Zeitpunkt, an dem das Asthma so schlimm wurde, dass ich das Gefühl hatte, zu ersticken. Da fasste ich den Entschluss, mich von jetzt an um mich selbst zu kümmern. Die Krankheit hatte mich endlich wachgerüttelt.

Mein Arzt sagte mir damals, dass er mir zwar ein Medikament gegen die Luftnot geben könne, aber dass ich selbst es in der Hand habe, wie sich das Asthma weiterentwickle. Er machte mir unmissverständlich klar, dass kein anderer außer mir die Verantwortung für mein Leben hat – und dass ich diese ernst nehmen müsse. Das bedeutete im Klartext: Weniger Stress und weg vom Perfektionismus, mehr Bewegung, mehr Schlaf, gesünderes Essen und mehr auf mich Acht geben. Das ging natürlich nicht von jetzt auf gleich, ich habe anfangs noch versucht, von den Problemen davonzulaufen, habe Jobs und Wohnorte gewechselt, bis mir klar wurde: Egal wohin ich gehe, es werden immer Einflüsse von außen auf mich einwirken, denen ich nicht davonlaufen kann. Ich muss an mir arbeiten, an meiner Einstellung zu mir selbst. Ich muss mich für das Leben stark machen.

Warum ausgerechnet auf eine Schweizer Alp?

Andere hätten sich in so einem Augenblick vielleicht den Rucksack geschnappt und wären ein paar Wochen durch tropische Länder gereist, unter Palmen und ans Meer. Und so war es vielleicht wieder typisch für mich, dass ich mir ausgerechnet die harte Arbeit auf einer Alp aussuchte, um mir etwas zu beweisen. Andererseits hatte ich schon mehrmals bei Wander-Urlauben die Kraft der Berge für mich entdeckt. Die Berge sind für mich der Ort, an dem ich mich geborgen und zu Hause fühle, gleichzeitig überträgt sich ihre unglaubliche Stärke stets auf mich.

Katharina Afflerbach steht mit einem Stock in der Hand auf einer Kuhweide in den Bergen.
Die Stille der Berge übt eine besondere Kraft aus.© Katharina Afflerbach

Um auszuprobieren, ob die Arbeit auf einer Alp überhaupt etwas für mich sein würde, half ich eine Woche lang auf einem Ziegen-Biohof in Südtirol aus. Es tat so gut, mal den Kopf auszuschalten, nicht über Strategien oder PowerPoint-Präsentationen nachzudenken. Nur der Augenblick war entscheidend, indem du dich nach den Tieren und der Natur richtest. Bis zu diesem Zeitpunkt war meine Welt sehr komplex, ich hatte große Projekte, war viel unterwegs. Da oben in den Bergen wurde die äußere Welt ganz klein und überschaubar und darin konnte sich meine innere Welt plötzlich öffnen.

Was waren die größten Hürden und wo war am meisten Mut gefragt?

Für mich war das Thema der Existenzsicherung ganz entscheidend, ich bin nicht verheiratet, hatte keine Reserven und durch meine verzweifelten Umzüge auf der Suche nach einem besseren Leben waren einige Kosten entstanden. Daher musste ich mir auf der einen Seite überlegen, wie ich mir diesen Übergang auf der Alp leisten kann. Auf der anderen Seite war die Frage: Wie geht es nach meiner Rückkehr weiter? Gelingt mir der Einstieg in die Selbstständigkeit? Gefällt es mir eventuell in den Bergen so gut, dass ich dort bleiben möchte?  Es erforderte also einerseits Mut, diese Entscheidung in die Tat umzusetzen, aber auch Mut, an das Ergebnis offen heranzugehen. Denn ich hatte ja keine Ahnung, was dieser Sommer auf der Alp mit mir machen würde.

Wie war das Leben in den Bergen – Heidi oder harte Arbeit?

Ich stellte schnell fest, dass der Alltag natürlich überhaupt nichts mit unseren Heidi-Bildern zu tun hat oder damit, was so manche Blogs und Instagram-Accounts uns vorgaukeln. Auch meine Testwoche in Südtirol hatte mich nicht annähernd darauf vorbereitet, was dann tatsächlich auf mich zukam: Jeden Tag mit den Tieren aufstehen, egal bei welchem Wetter raus, kein freier Tag, keine Zeit für mich, keine Privatsphäre, ein einfaches Leben mit einer fremden Familie in einer kleinen Hütte – und das vier Monate am Stück. Mein Körper brauchte am Anfang ein paar Wochen, bis er überhaupt annähernd mit der Höhe und der schweren Arbeit zurechtkam, nachdem er zwölf Jahre lang nur auf bequemen Bürostühlen verbracht hatte.

Eine Ziegenherde wird auf die Weide gelassen.
Auf der Alp bestimmen die Jahreszeiten und die Tiere den Tagesablauf.© Katharina Afflerbach

Jeder Tag begann mit dem Melken gegen 05.30 Uhr, dann wurde Käse gemacht, Holz gehackt, der Stall ausgemistet, die Heuernte eingebracht. Auf der Alm gab es Kühe, Rinder und Kälbchen, Ziegen und Schweine – alle Tiere mussten täglich versorgt werden. Wir hatten damals den kältesten und nassesten Sommer seit Langem, Nebel, Hagel, Schnee – das komplette Programm. Und ich war permanent am Rande meiner Kräfte, ständig übermüdet. Ein großes Geschenk war die Herzlichkeit und Wärme der Bauersfamilie, die jeden Tag großartig gekocht hat. Es gab immer frische Milchprodukte, Fleisch von den eigenen Tieren und manchmal erntefrisches Gemüse aus dem kleinen Garten hinter der Hütte. Auch wenn mir das nasskalte Wetter sehr zugesetzt hat, wusste ich: In der Hütte brennt immer ein Feuer, es wartet heißer Tee und eine warme Mahlzeit auf mich. Das hat mich über die ersten Schwierigkeiten gebracht.

Dachten Sie auch mal daran, aufzugeben?

Anfangs habe ich mich innerlich verflucht, dass ich meine Komfortzone verlassen hatte. Es war ja mein Wunsch, zu wachsen, mich zu entfalten und mich neu zu finden – aber dass diese Zeit so anstrengend werden würde, dass ich immer wieder an meine Grenzen kam, hätte ich nicht gedacht. Du musst den Zaun fertig machen, auch wenn die Finger einfrieren. Du musst die Tiere auf die Weide bringen, auch wenn es schüttet und drei Grad hat. Ja, ich habe geflucht, aber wirklich zu gehen, wäre für mich nicht infrage gekommen. Ich wusste, ich muss das durchziehen, mit allen Höhen und Tiefen. Denn genau dafür bin ich auch auf die Alp gegangen: um wieder im echten Leben mit allem, was dazugehört, zu sein – und nicht mehr in einer künstlichen Büro- und Karrierewelt.

Katharina Afflerbach melkt eine Kuh.
Die Arbeit auf der Alp ist anstrengend – aber auch abwechslungsreich.© Katharina Afflerbach

Gab es ein Erlebnis, das Sie besonders berührt hat? 

Einer der schönsten Augenblicke, vielleicht sogar ein Schlüsselerlebnis während meiner Zeit auf der Alp, war meine erste Kälbchengeburt eines Nachts. Es war unglaublich mitzuerleben, wie viel Aufmerksamkeit und Fürsorge die Bauern, die ja viele Tiere besitzen und bereits zahlreiche Geburten begleitet hatten, dieser Kuh schenkten, als sei sie ein eigenes Familienmitglied. Diese Wertschätzung gegenüber den Tieren und dem Lauf der Natur hat mich beeindruckt.

Ich war ja unter anderem in der Kreuzfahrtbranche tätig – einer absurden Branche, wenn wir uns die Situation des Planeten anschauen – und musste beruflich viel fliegen. Damals habe ich kaum einen Gedanken daran verschwendet, woher mein Essen stammt oder meine Kleidung, wie ich mich fortbewege oder was ich konsumiere. Aber als ich dort stand, in dieser klaren Nacht im Stall, und sah, wie die Familie voller Harmonie und Frieden und in Einklang mit den Tieren und der Natur war, hat mich das nachhaltig geprägt. Ich glaube, in diesem Augenblick habe ich wieder zu meinem Kern zurückgefunden und es wurde mir bewusst, was wirklich zählt im Leben. Seitdem hinterfrage ich vieles in meinem Leben, lasse mich nicht mehr von außen blenden oder beeinflussen. Ich treffe Konsumentscheidungen bewusster und versuche jeden Tag, mein Leben so zu gestalten, dass es möglichst wenig Leid für andere Lebewesen und den Planeten mit sich bringt.

Was raten Sie Menschen, die etwas ändern möchten, aber den Mut nicht aufbringen? 

Veränderung bedarf nicht immer einer absoluten Kehrtwende. Es reichen auch kleine Schritte, um letztendlich Großes zu erreichen. Nehmen Sie genug Mut zusammen für einen ersten Schritt und lassen Sie dann jeden Schritt ein klein bisschen größer werden. Dieser Rat lässt sich auf alle Lebensbereiche übertragen, in denen der Wunsch nach Veränderung besteht. Auch ich habe meinen Ausstieg auf Zeit Schritt für Schritt geplant und durchdacht, es war keine Hauruck-Entscheidung. Meine Existenzsicherung stand immer an erster Stelle und ich würde auch jeder und jedem raten, eine solche Entscheidung gut zu überlegen und langsam anzugehen.

Liebe Frau Afflerbach, vielen herzlichen Dank für das Gespräch!

Über unsere Interviewpartnerin

Katharina Afflerbach, geboren 1977 im Siegerland, ist Autorin, freie Texterin, Coach und im Sommer Sennerin in den Schweizer Bergen. Ihre Erfahrungen hat sie im Buch „Wie mir das Leben auf der Alp Kraft und Klarheit schenkte“ (Eden Books, 2019) aufgeschrieben. Mit ihren Spendenabendessen „Dinner for Life“ hat sie eine neue Art der sozialen Begegnung, im doppelten Wortsinn, geschaffen. Infos unter www.facebook.com/dinnerforlifecharity oder www.ideen-afflerbach.com.

 

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