Hochsensibilität – Leben ohne Filter
Für hochsensible Menschen ist jeder Tag nahezu wie ein Besuch auf dem Rummelplatz. Weil sie ihre Umwelt sehr intensiv und detailreich wahrnehmen, prasseln täglich unzählige Reize auf sie ein. Die Hochsensibilität führt dazu, dass Geräusche, Gerüche, Berührungen und Lichter mit allen Sinnen verstärkt wahrgenommen werden.
Laut Statistiken sind rund 15 bis 20 Prozent der Menschen hochsensibel. Allein in Deutschland gibt es demnach rund 15 Millionen Betroffene, von denen viele nicht einmal wissen, dass sie hochsensibel sind. Höchste Zeit also, sich mit dem Thema einmal genauer auseinanderzusetzen.
Inhalt
Was ist Hochsensibilität?
Kurz gesagt ist Hochsensibilität ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal. Menschen, die dieses Merkmal aufweisen, nehmen Reize generell intensiver wahr und verarbeiten sie tiefer. Das gilt sowohl für Lärm oder unangenehme Gerüche als auch für schöne Reize wie Musik oder Kunst. Wer hochsensibel ist, leidet daher schneller an Reizüberflutung und ist schnell von Situationen überwältigt, empfindet dafür aber auch tiefer.
Wer diagnostiziert Hochsensibilität?
Der Begriff der Diagnose ist im Hinblick auf Hochsensibilität eigentlich nicht passend. Denn es handelt sich dabei nicht um eine Krankheit oder psychische Störung. Vielmehr stellt diese Sinnesausprägung ein Persönlichkeitsmerkmal dar. Es gibt verschiedene Selbsttests, die eine Selbsteinschätzung ermöglichen sollen. Die Plattform ZART BESAITET bietet beispielsweise einen solchen Test in deutscher Sprache an.
Schwierig ist jedoch, dass einige Aspekte der Hochsensibilität auch dann auftreten können, wenn es sich um ernstzunehmende psychische Probleme handelt, die einer Behandlung bedürfen. Daher sollten Sie im Zweifel immer das Gespräch mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin suchen.
Welche Ursache hat Hochsensibilität?
Noch ist nicht genau geklärt, was die Hochsensibilität verursacht. Man geht davon aus, dass es sich um eine genetische Veranlagung handelt und dass verschiedene Strukturen des Gehirns eine veränderte Aktivität aufweisen. Auch Umwelteinflüsse sollen jedoch eine Rolle spielen. Nach derzeitigem Kenntnisstand wird das Merkmal vererbt. Daher haben die Kinder hochsensibler Eltern oft ebenfalls diese Eigenschaft.
Forschung zum Thema Hochsensibilität
Die Forschung zum Thema Hochsensibilität ist bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Zentral ist nach wie vor das Werk der US-amerikanischen Psychologin Elaine Aron. Doch auch im deutschsprachigen Raum ist das Thema Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen.
Elaine Aron – Pionierin im Feld der Hochsensibilität
Der Begriff der Hochsensibilität geht auf die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron zurück. Aron, die selbst hochsensibel ist, begann 1996 sich verstärkt mit dem Themenkomplex auseinanderzusetzen. Aron führte zahlreiche Studien durch und machte die vielen verschiedenen Ausdrucksformen von Hochsensibilität, aber auch deren Konsequenzen für Betroffene zu ihrem Forschungsgebiet.
Ihre umfassenden Forschungsergebnisse zum Thema Hochsensibilität veröffentlichte sie schließlich in ihrem Bestseller „The highly sensitive person“. Das Buch ist in Deutschland unter dem Titel „Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen“ erschienen. Es gilt bis heute als Standardwerk zu diesem Thema.
Laut Aron ist Hochsensibilität vor allem durch vier Hauptmerkmale gekennzeichnet:
- gründliche Verarbeitung von Informationen
- Übererregbarkeit
- Emotionalität und
- sensorische Empfindsamkeit
Forschung im deutschsprachigen Raum
Im deutschsprachigen Raum findet beispielsweise an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg Forschung auf dem Gebiet der Hochsensibilität statt. Auf der Seite des Informations- und Forschungsverbundes Hochsensibilität e. V. finden Sie weitere interessante Links zu wissenschaftlichen Publikationen rund um das Thema.
Herausforderungen bei Hochsensibilität
Oft empfinden Hochsensible ihre feinen Antennen als lästig. „Ich wär’ so gern einfach normal“ ist ein Satz, der nicht selten von den Lippen eines oder einer „Betroffenen“ stammt. Tatsächlich bringt diese Eigenschaft auch eine Reihe von Herausforderungen mit sich.
Reizüberflutung und Erschöpfung
Im Vergleich zu anderen Menschen haben Hochsensible keinen Filter, der sie von Reizen der Außenwelt abschirmt. Diese Reize werden somit direkt vom Gehirn aufgenommen und verarbeitet. Bei Personen, die nicht hochsensibel sind, werden nur die stärkeren Reize dem Gehirn zugeführt. Es findet also eine Selektion statt, die sie vor Überforderung schützt. Dadurch dass bei Hochsensiblen mehr Reize zur Verarbeitung im Gehirn zugelassen werden, kann es sehr schnell zu einer Reizüberflutung kommen. Das wiederum führt zu einer schnelleren Erschöpfung, Stress, Ermüdung und weiteren Symptomen der Überbelastung.
Anfälligkeit für psychische Erkrankungen
Aufgrund ihrer intensiveren Wahrnehmung sind hochsensible Menschen schneller psychisch überlastet. Entsprechend ist der Anteil an Menschen mit dieser Eigenschaft in therapeutischen Praxen deutlich höher als im Durchschnitt. Tritt eine Reizüberflutung häufiger auf oder hält sie gar über längere Zeit an, können sich daraus psychische Störungen entwickeln. So können etwa Depressionen, Angstzustände oder Anpassungsstörungen auftreten.
Emotionalität und Empfindlichkeit
Ebenfalls typisch hochsensibel: Emotionalität, wie zum Beispiel schnelles Weinen. Viele sind empfindlich in Bezug auf ihre Haut, etwa bei kratzenden Pullovern. Im akustischen Bereich können Straßenlärm, laute Musik oder Stimmengewirr als extrem störend empfunden werden. Oder das Sehvermögen ist besonders ausgeprägt und es werden selbst minimale Veränderungen wahrgenommen. Auch das Riechvermögen kann stark ausgeprägt sein, sodass man manche Leute im wahrsten Sinne des Wortes nicht riechen kann.
Missverständnisse in Freundschaft, Familie und Partnerschaft
Nicht selten kommt es aufgrund der erhöhten Sensibilität zu Missverständnissen in Freundschaft, Familie und Partnerschaft. „Du bist aber ein Sensibelchen“ oder „zart besaitet“ mag wohl fast jeder hochsensible Mensch schon einmal in seinem Leben gehört haben. Dabei ist Hochsensibilität keine Krankheit, sondern schlicht ein besonderes Persönlichkeitsmerkmal, das neben den Herausforderungen auch viele Potenziale birgt.
Stärken und besondere Gaben von hochsensiblen Menschen
Wie jede Medaille hat auch die Hochsensibilität zwei Seiten. Zwar ergeben sich durch die feinen Antennen besondere Herausforderungen in der Bewältigung des Alltags. Dafür resultieren daraus jedoch gleichermaßen zahlreiche Stärken und besondere Gaben. Indem ein hochsensibler Mensch beispielsweise Stimmungen intensiver wahrnehmen kann, ist er in der Lage, kleinste Spannungen zu spüren. Nicht selten betritt ein hochsensibler Mensch einen Raum voller Menschen und spürt sofort, dass „etwas in der Luft hängt“.
Intuition und Sinnhaftigkeit
Hochsensible Menschen sind mit einem besonderen Gespür für andere Menschen sowie für Beziehungen gesegnet. Sie sind empathisch und haben die Fähigkeit, intuitiv zu denken und zu handeln. Oft verspüren sie ein starkes Bedürfnis nach sinnhafter Tätigkeit. Das führt häufig dazu, dass sie in helfenden und sozialen Berufen tätig sind. Darüber hinaus sind sie in der Lage, sich an Ereignisse, die lange zurückliegen, zu erinnern. Dadurch können sie Verbindungen zu heutigen Situationen herstellen.
Kreativität und Tiefgründigkeit
Als Kinder oft sehr fantasievoll, zeichnen sich Hochsensible im Erwachsenenalter meist durch Kreativität, Ideenreichtum und künstlerische Begabung aus. Dadurch sind viele von ihnen in kreativen, künstlerischen und musischen Berufen zu finden. Oft sind sie die Ersten, die in Krisensituationen mit besonderen Lösungen aufwarten. Hochsensible haben häufig eine Tendenz zu einer besonderen Tiefgründigkeit und einem forschenden Geist. Daher lehnen sie „Smalltalk“ meist ab. In Gruppensituationen beobachten sie eher und sind meist nicht mitten im lauten Geschehen. Es gibt jedoch auch extrovertierte Hochsensible, die kontaktfreudig sind und sich gern mit anderen umgeben.
Sinn für Ästhetik, Harmonie und Musik
Die besondere emotionale Tiefe Hochsensibler führt dazu, dass sie einen starken Hang zu Harmonie und Ästhetik haben. Weil sie emotional tief empfinden, erleben sie auch zwischenmenschliche Momente oder Begegnungen mit Tieren besonders intensiv. Musik spricht sie ebenfalls auf besondere Weise an.
Hochsensibilität in der Partnerschaft
Ein spontaner Rückzug, viel Ruhebedürfnis, überwältigende Emotionen – Hochsensibilität stellt nicht selten auch Partnerschaften auf den Prüfstand. Gerade ein hochsensibler Partner oder eine hochsensible Partnerin kann für Menschen ohne dieses Merkmal zu einer großen Herausforderung werden. Wer diese Eigenschaft nicht hat, sollte versuchen zu verstehen, dass Hochsensible Gefühle und Reize intensiver empfinden – und entsprechend intensiver reagieren. Hochsensible neigen in Partnerschaften häufig dazu, sich zu stark auf ihr Gegenüber einzulassen, und verlieren sich manchmal in ihm. Hier ist Abgrenzung gefragt – und ein offenes Gespräch.
Das Gespräch suchen
Insgesamt ist es besonders wichtig, miteinander zu reden. Das macht Gefühle greifbar und schafft mehr Verständnis für die unterschiedlichen Wahrnehmungen.
Verständnis zeigen
Lärm, Menschenmengen und stressige Situationen sind für hochsensible Menschen oft schwer zu bewältigen. Menschen, die nicht hochsensibel sind, sollten das im Hinterkopf behalten. Sie sollten sich nicht persönlich abgewiesen fühlen, wenn sich der oder die Hochsensible beispielsweise aus einer bevorstehenden Feier ausklinkt oder bestimmte Anlässe meidet. Wer merkt, dass sein Partner oder seine Partnerin in einer bestimmten Situation überfordert ist, kann ihm oder ihr mit Achtsamkeit heraushelfen. Dies kann die betroffene Person selbst in dem Moment vielleicht nicht tun.
Erst reflektieren, dann handeln
Für Hochsensible selbst gilt: Jemand ohne dieses Merkmal fühlt nicht so tief. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass es an Liebe mangelt, sondern dass die Gefühlswelt schlicht nicht so ausgeprägt ist. Hochsensible sollten das stets im Hinterkopf behalten. Sich selbst mitzuteilen, wenn die Gefühle mal wieder verrücktspielen, vermeidet Missverständnisse. Hilfreich ist hier auch, kurz innezuhalten und die eigene Reaktion zu reflektieren, bevor ein Impuls ausgeführt wird. Das ist zwar nicht immer leicht, hilft jedoch, Konflikte besser zu lösen.
Bitte nicht vergessen: Wer eine Beziehung mit einer oder einem Hochsensiblen führt, sollte sich vor Augen halten, dass dies nicht immer leicht ist. Es erfordert besonders viel Verständnis. Dafür ist die Beziehung jedoch umso tiefer und inniger.
Weitere Tipps im Umgang mit Hochsensibilität
- Geben Sie Ihrem Tag eine Struktur. Das hilft, Ruhephasen besser einzuplanen.
- Lieber „Mono“ statt „Multi“: Vermeiden Sie Multitasking und erledigen Sie eins nach dem anderen.
- Sofern möglich, reduzieren Sie Meetings und Einladungen.
- Achten Sie umgekehrt jedoch darauf, sich nicht völlig zu isolieren. Statt jeden geselligen Abend mit Freunden abzusagen, gehen Sie lieber ab und zu für ein oder zwei Stunden aus.
- Ein gut geplanter Abend erleichtert den Start in den nächsten Tag.
- Lernen Sie, sich abzugrenzen und „Nein“ zu sagen.
- Verbringen Sie täglich eine bestimmte Zeit allein, um sich wieder zu sammeln.
- Tägliche Meditationen und Entspannungstechniken helfen, den reizüberfluteten Geist zur Ruhe zu bringen.
- Routinen und Rituale geben Sicherheit.
- Richten Sie sich, wenn möglich, einen Ruheraum ein.
- Gehen Sie so oft wie möglich offline.
- Reduzieren Sie den Konsum von sozialen Medien.
- Verbringen Sie möglichst viel Zeit in der Natur.
- Nutzen Sie Kopfhörer, wenn Sie das Haus verlassen oder einen lauten Arbeitsplatz haben.
- Schreiben Sie täglich Tagebuch, um Ihre Gedanken zu ordnen.
- Achten Sie auf ausreichend Schlaf! Hochsensible benötigen in der Regel mehr Stunden Nachtruhe.
- Musizieren Sie, malen Sie oder eignen Sie sich kreative Techniken an, um sich Ausdrucksmöglichkeiten zu verschaffen.
- Lernen Sie, den eigenen Perfektionismus und damit die hausgemachte Überforderung abzulegen. Ein Leitsatz kann sein: „Es ist jetzt gut genug“.
- Tragen Sie Wohlfühlkleidung, in der Sie sich sicher, geborgen und geschützt fühlen.
- Suchen Sie den Kontakt zu Gleichgesinnten und ähnlich sensiblen Menschen. In vielen Städten gibt es mittlerweile Selbsthilfegruppen, in denen sich Hochsensible gegenseitig unterstützen.
- Aufräumen ordnet den Geist! Nutzen Sie die Gelegenheit, regelmäßig auszumisten und sich zu erleichtern. Viele Hochsensible leiden unbewusst unter überflüssigem Besitz.
- Reduzieren Sie die Anzahl Ihrer Entscheidungen am Tag. Entscheidungen zu treffen, fällt Hochsensiblen oft schwer und kostet sie Kraft.
Film- und Buchtipps zum Thema Hochsensibilität
- Filmtipp: Sensitive – The Untold Story. Ein wegweisender Dokumentarfilm mit Alanis Morissette, basierend auf den Veröffentlichungen von Bestseller-Autorin und Psychologin Dr. Elaine Aron.
- „Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen“ von Dr. Elaine Aron. Die Pionierin des Forschungsgebiets gibt in diesem Standardwerk konkrete Hilfestellungen.
- „Die Berufung für Hochsensible: Die Gratwanderung zwischen Genialität und Zusammenbruch“ von Luca Rohleder. Der Gründer des NETZWERKs HOCHSENSIBILITÄT hat lange als Coach und Berater gearbeitet. Hier gibt er Hochsensiblen Tipps für ihre berufliche Erfüllung.
- „Zart besaitet: Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochsensible Menschen“ von Georg Parlow. Ein Grundlagenwerk, das die „Eigenarten“ und Besonderheiten hochsensibler Menschen präzise erfasst.